Schleswig-Holsteins neue Stromautobahn ist fertig
von Peer-Axel Kroeske
21.10.2020 (archivierter Text)
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Die neue "Stromautobahn" Mittelachse zwischen Hamburg und Dänemark nimmt ihren Betrieb auf. Sie beendet nach 20 Jahren einen Strom-Engpass. Doch es hätten Milliarden gespart werden können.
Das neue Umspannwerk bei Handewitt liegt mitten in der flachen Landschaft. Überlandleitungen kreuzen sich. Windparks reichen im Westen bis an den Horizont. An diesem Knotenpunkt kommt Energie an, die Hunderte Windräder von Flensburg bis Nordfriesland liefern. Nun ist die Anschlussstelle an die Stromautobahn fertig. Schleswig-Holsteins Umweltminister Jan Philipp Albrecht (Grüne), Staatssekretär Thomas Bareiß (CDU) aus dem Bundeswirtschaftsministerium und Geschäftsführer Tim Meyerjürgens vom Netzbetreiber Tennet feierten zudem die Inbetriebnahme einer neuen Überlandleitung. Die sogenannte Mittelachse durchzieht Schleswig-Holstein entlang der A7 von Nord nach Süd durch und verbindet Hamburg mit Dänemark. Sie kann fünf Gigawatt aufnehmen, was etwa der Spitzenleistung von 2000 modernen Windrädern entspricht. Der Bau der 388 benötigten Masten blieb im Zeitplan, auch das geplante Budget reichte aus. Doch bis der Bau begann, hat es lange gedauert.Windkraft jahrelang bis zu 80 Prozent gedrosselt
Die ersten großen Windparks in der Region waren schon um die Jahrtausendwende entstanden, ohne dass das Stromnetz nennenswert angepasst wurde. Es stieß mit dem weiteren Ausbau der Windkraft seit 2015 an seine Grenzen. Das belegt der Bericht zum Einspeisemanagement des schleswig-holsteinischen Energiewendeministeriums. Anlagen werden seit damals regelmäßig gedrosselt oder abgeschaltet. Anlagenbetreiber berichten, dass sie bis zu 80 Prozent ihrer Einnahmen aus Entschädigungszahlungen beziehen. Betroffen ist vor allem der nördliche Streifen an der dänischen Grenze. Dieser sorgt damit für einen nennenswerten Teil der bundesweiten Ausfallzahlungen in Höhe von 700 Millionen Euro im Jahr, von denen knapp die Hälfte auf Schleswig-Holstein entfallen. Dafür zahlen alle Stromkunden gemeinsam.
Zu der Frage, ob ein früherer Planungsbeginn die aufsummierten Milliardenkosten hätte vermeiden können, antwortete CDU-Staatssekretär Thomas Bareiß aus dem Bundeswirtschaftsministerium in Handewitt, man müsse auch die Bürger mitnehmen und einbeziehen. Das brauche Zeit.
Planungsprozesse jetzt beschleunigt
In Schleswig-Holstein herrschen eigentlich optimale Bedingungen, um Entschädigungszahlungen zu vermeiden, denn es gibt vergleichsweise wenig Widerstand. Zuletzt hatte ein Gericht die sogenannten Regionalpläne für den Windkraftausbau gekippt. Seit 2016 werden kaum noch neue Anlagen errichtet - mit dem Effekt einer Verschnaufpause für die Stromnetze, deren Kapazitäten zu diesem Zeitpunkt aber bereits überschritten waren. Das Grundproblem: Anfangs durften Netze erst geplant und gebaut werden, nachdem ein Bedarf entstanden war. Inzwischen gibt es einen vorausschauenden Netzentwicklungsplan bis 2030. Das verbessere die Lage, meint Tennet-Sprecher Matthias Fischer. "Auch wenn es in der Vergangenheit zu lange gedauert hat, zehn Jahre und länger, gehen wir jetzt Projekte an, die in fünf Jahren fertig sein sollen."
Fehlendes Personal kostet Zeit
Dennoch wird zum Beispiel die Westküstenleitung in Schleswig-Holstein, das andere große Infrastrukturprojekt, in fünf Abschnitten gebaut. Nicht gleichzeitig, sondern hintereinander. Planungsbeginn war 2013. Der Abschnitt von Brunsbüttel bis Heide ist bereits in Betrieb, bis zur dänischen Grenze soll die Leitung aber erst Ende 2023 fertig sein. Die Ostküstenleitung von Henstedt-Ulzburg über Lübeck nach Göhl bei Oldenburg ist sechs Jahre nach den ersten Planungen immer noch nicht in Bau.
Für Fischer gibt es dafür verschiedene Gründe: "Man muss immer bedenken, wie viele Landeigentümer man ansprechen muss, ökologische Baubegleitung, archäologische Untersuchungen, Untersuchungen auf Munition im Boden. Und dann gibt es noch die behördliche Seite: Wie viele Ansprechpartner sind da, die das prüfen können?"
"Noch viel, viel mehr Netzausbau nötig"
Um den Klimawandel zu bremsen und CO2-Emissionen deutlich zu reduzieren, ist nach vielen Modellrechnungen eine schnelle Vervielfachung von Wind- und Sonnenanlagen im Bereich mehrerer Hundert Gigawatt in Deutschland nötig. Tennet-Sprecher Fischer kennt die Zahlen: "Wenn man die Klimaziele von Paris erreichen will, wird man große Mengen von Offshore-Windenergie brauchen, auch Onshore-Solarenergie. Um diese Mengen zu transportieren, wenn man das alles über Stromnetze machen wollte, müsste man noch viel, viel mehr Netzausbau machen, auch über das Jahr 2030 hinaus." Er verweist aber auch darauf, dass die Politik jetzt das richtige Verhältnis von Speichertechnik und Netzausbau bestimmen und vorausschauend planen müsse.
Speichertechnik als nächster Meilenstein
Ein großflächiger Netzausbau kann das lokale Auf und Ab der Produktion von Wind- und Solarenergie verringern. Speicher sorgen, trotz hoher Energieverluste, für Verlässlichkeit beim erneuerbaren Strom. Tennet wirbt schon seit mehreren Jahren dafür, viele große Offshore-Windparks auf der Nordsee zu bauen und zu vernetzen. Diese Netze sollten mit Gasleitungen gekoppelt werden und mit intelligent verteilten Elektrolyseuren ergänzt werden, sagt Fischer, und zwar "möglichst erzeugungsnah, also auch küstennah". Der Wasserstoff könne dann als Stromspeicher und Treibstoff dienen. Auch Schleswig-Holsteins Energiewendeminister Albrecht wirbt dafür, die Energie vor Ort zu nutzen. Er appellierte in Handewitt an den Bund, die Abgaben zu streichen, die eine Produktion von grünem Wasserstoff zurzeit noch unwirtschaftlich machen.