Wenn Eltern zurück bleiben
von Peer-Axel Kroeske
20.02.2017 (archivierter Text)
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Tödlicher Verkehrsunfall mit 29 Jahren - mehr als zwei Jahre nach dem Tod ihres Sohnes bestimmt die Trauer noch das Leben der Eltern. In einer Gesprächsgruppe treffen sie auf Schicksalsgefährten.
Wer das Haus von Anne und Jürgen Gläser in Handewitt betritt, sieht schon im Flur ein Foto von David. Die Zimmer sind voller Erinnerungsstücke. Ihr ältester Sohn verstarb im Sommer 2014 bei einem tödlichen Verkehrsunfall. Er hatte nach dem Studium in Flensburg gerade eine Stelle in Kassel bekommen. Dort fuhr er auf seinem Rad, als ein Autofahrer ihm die Vorfahrt nahm.
Kein Zurück zum Alltag
Ein Polizist erschien an diesem Tag unerwartet an Jürgen Gläsers Arbeitsstelle. Er überbrachte die unfassbare Nachricht. Der jüngere Sohn reiste an. Es folgte die Beerdigung mit viel Anteilnahme. Die Trauer blieb. Jürgen Gläser konnte zwischenzeitlich nicht seiner Arbeit als Ingenieur nachgehen. Er spricht von körperlichem Schmerz, vergleichbar mit Messerstichen. "Es kommen immer Momente, wo man an das verstorbene Kind denkt. Es sind Anknüpfungspunkte, die man nicht erwartet. Und deshalb tut es unerwartet weh." Jürgen Gläser wirkt ruhig und gefasst. Doch er sagt, er sei reizbar geworden: "Man steht permanent unter Stress, auch in der Ehe."
Mit dem Schicksal nicht allein bleiben
Schließlich fand das Ehepaar Kontakt zu der Gruppe "Verwaiste Eltern und Trauernde Geschwister Schleswig-Holstein" - ein Selbsthilfeverein finanziert durch Spenden und die Kirche. Hier fühlen sich beide gut aufgehoben. "Da sitzen alles betroffene Leute. Wenn man nur etwas andeutet, wissen die genau, was gemeint ist," sagt der Vater. Der Zeitpunkt war nicht ungewöhnlich, meint die Theologin und Familientherapeutin Elke Heinen von dem Verein. Ein halbes Jahr nach dem Unglück merken viele Trauernde, dass sie Hilfe brauchen. Freunde und Bekannte können nicht immer mit der Situation umgehen und erwarten, dass die Trauer auch einmal in den Hintergrund tritt. Das spürten auch die Gläsers. Einige Kontakte gingen verloren, andere kamen hinzu.
Der Unfallfahrer zeigte keine Einsicht
Die Gerichtsverhandlung - mehr als ein Jahr nach dem Unfall - riss bei den Gläsers alte Wunden auf. Der Rechtsanwalt hatte den beiden geraten als Nebenkläger aufzutreten. Dann würde der Autofahrer ein Gesicht sehen. Der Unfallverursacher wurde in allen Punkten schuldig gesprochen, zeigte aber keinerlei Reue, erzählen die Gläsers. Seine Strafe: ein halbes Jahr Haft auf Bewährung. Anne Gläser denkt nur ungern an den Termin zurück. "Wir spielten keinerlei Rolle. Es ging nur um den Autofahrer. Der Richter hat ihn begrüßt, hat sich hinterher mit Handschlag vom Autofahrer verabschiedet, aber uns überhaupt nicht beachtet."
Trauerrituale geben Halt
Das Ehepaar geht bis heute sehr individuell mit der Erinnerung an den Sohn um. Zu seinem 30.Geburtstag schrieben Freunde Briefe an ihn. Einige wurden am Grab vorgelesen, andere wurden verbrannt. An Weihnachten bekommt David nach wie vor einen Platz beim Raclette-Essen. Über seinem Stuhl hängt seine Jacke. Zum Todestag verteilen die Gläsers Fotos von David an die Freunde und legen sie auf sein Grab. Lieder werden gesungen, Ansprachen gehalten. Die Trauer bestimmt das Leben des Ehepaars. "Er ist morgens mein erster und abends mein letzter Gedanke," sagt Anne Gläser.