Warning: Undefined array key "lon" in /var/www/web392/html/reportagen.php on line 29

Südermarkt Null in Flensburg: Der Mann im Zelt

von Peer-Axel Kroeske

02.03.2015 (archivierter Text)
ZUM VOLLSTÄNDIGEN ARTIKEL (archive.org)

In "Ohne Bleibe in Schleswig-Holstein" begleiten wir Menschen, die ein Straßenmagazin verkaufen. Einer von ihnen ist Pierre Quint. Er lebt in einem Zelt auf dem Flensburger Südermarkt.

Der Ruß von dem Feuer Ende November verdunkelt noch immer die Kirchenmauer. Hier stand das erste Zelt von Pierre Quint. "Unbekannte haben es Ende November angezündet", berichtet der 53-Jährige. Doch er ließ sich nicht vertreiben. Ein hilfsbereiter Flensburger schenkte ihm einen Ersatz. Das neue Zelt ist nur wenige Meter entfernt aufgebaut. Die Kirche duldet ihn. Die Polizei hat ihn schon mit der Adresse "Südermarkt 0" angeschrieben. Der Brief kam an. In dem Zelt: ein Schlafsack, eine Tüte Spagetti, Bücher. Er liest gern. Momentan arbeitet er sich durch einen Wälzer - ein Roman über den Fund eines weiteren Evangeliums. Ist er gläubig? Quint verneint. Allerdings sei sein Großvater Propst in Ostpreußen gewesen. Vor allem mag er Fantasy-Romane. Diese Vorliebe brachte ihm seinen Spitznamen ein.

Ohne Ausweis in der Bücherei

"Hey, Zauberer", begrüßt ihn Sandra, die in einem Grüppchen vor den Eingängen zur öffentlichen Südermarkt-Toilette steht. Sie umarmt ihn. Die Flensburger kennen den Ort als Treffpunkt für Alkoholabhängige. Auch Pierre Quint nimmt sich davon nicht aus. Quint will weiter in die Bücherei. Links ist ein Regal mit Büchern aufgebaut, die zu verschenken sind. Bei anderen Schmökern wird um 50 Cent gebeten. Der Obdachlose steckt eine Münze in die Spendenbox. Ausleihen mag er nichts. Im Zelt würden die Bücher schnell schimmeln. Außerdem habe er vor längerer Zeit mal Ausgeliehenes nicht zurück gebracht. Deshalb bekomme er wohl keinen Ausweis. Allerdings kann er sich an einen der Tische setzen. Er nutzt die Gelegenheit, um seinen portablen DVD-Spieler mit Bildschirm zu laden, den er in einer Umhängetasche mitschleppt. Außerdem besitzt er einen Zusatzakku, mit dem sein Handy länger läuft. Das Telefon ist ein älteres Modell. "Seit es einmal ins Wasser fiel, hat es einige Macken", meint er.

Zwischen Platte und Krankenhaus

Im "Tagestreff für Männer mit Wohnproblemen" im Johanneskirchhof kann sich Quint eine warme Mahlzeit zubereiten. Hier nutzt er ein Schließfach im Schrank und ein weiteres im Kühlschrank. Dusche und Waschmaschine stehen bereit. Einmal in der Woche behandelt ein Arzt alle, die Hilfe brauchen. In einem verrauchten Zimmer besprechen sich gerade einige "Hempels"-Verkäufer. "Pro Tag nutzen etwa 30 bis 50 Männer das diakonische Hilfsangebot", berichtet Sozialarbeiterin Michaela Ketelsen. Wie viele tatsächlich obdachlos seien, ließe sich schwer abgrenzen. Viele gelten als "Drehtürkandidaten", weil sie oft zwischen Platte, Gefängnis, Krankenhaus und als Sofaschläfer bei wechselnden Bekannten pendelten.

Ohne Geld ins Gefängnis

Pierre Quint kennt diesen Zustand schon mehr als 20 Jahren. Geboren ist er in Stockholm. Seine Mutter zog oft um. Er landete auf Fehmarn und schließlich in Flensburg. An der Förde kellnerte er. Ende der 80er-Jahre stieß er zu den Hausbesetzern in der Norderstraße, die später am Hafermarkt unterkamen. Schließlich bezog er eine eigene Wohnung am Hafen - die sei richtig schön gewesen, erinnert er sich. Doch das Haus brannte ab. Pierre Quint stand vor dem Nichts, hatte nur noch seinen damaligen Hund. Die Jahre verschwimmen in seiner Erinnerung. Zwischenzeitlich kam er in der Hilfseinrichtung "Brücke" in Schleswig unter. Dort fühlte er sich aber wie ein Kind behandelt. Es kam zu Streit. Vor einem Jahr wohnte er dann in einem Hinterhaus der Mittelstraße. Dort wurden Fenster und Briefkästen demoliert. Die Folge: "eine Räumungsklage mit vielen falschen Vorwürfen", sagt Quint. Nur einmal habe er tatsächlich randaliert, weil Heizung und Warmwasser abgestellt waren. Den Schaden konnte er nicht bezahlen. Deshalb landete er mehrere Wochen im Knast.

Der Weg aus der Obdachlosigkeit

Kontakt zu seinen Eltern hat er nicht mehr, auch keine Partnerin. Vor drei Jahren lief ihm eine Hündin zu. Der vorherige Besitzer war verstorben. Pierre Quint trägt eine Kette mit Sicherheitsschloss - eine Erinnerung an die Hündin. Im Sommer verstarb seine tierische Gefährtin. Seitdem habe er wieder begonnen, Hochprozentiges in größeren Mengen zu konsumieren, gibt der 53-Jährige zu. Das wurde ihm jetzt zum Verhängnis. Wenige Tage, nachdem die Bilder entstanden, stürzte er offenbar im Rausch. Mit einem Hüftbruch fand er sich im Krankenhaus wieder. Die Operation glückte. Ob er aber wieder im Zelt leben kann, erscheint fraglich. Die Obdachlosigkeit setzte ihm auch schon vorher gesundheitlich immer mehr zu. Die Suche nach einer neuen Bleibe wird für Pierre Quint dringlicher denn je.

In der Sendereihe "Ohne Bleibe in Schleswig-Holstein" stellen wir Menschen vor, die teilweise jahrelang buchstäblich auf der Straße lebten. Wohnungslos, ohne ein Dach über dem Kopf. Fast alle haben es aus dieser Situation wieder herausgeschafft. Unterstützt wurden sie dabei maßgeblich von "Hempels", dem Straßenmagazin für Schleswig-Holstein. 


zurück zu nord-sh.de