Flensburger Freispruch für Bahnhofswald-Besetzer schlägt Wellen
von Peer-Axel Kroeske
10.11.2022 (archivierter Text)
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Schlägt Klimaschutz das Eigentumsrecht? Experten reagieren skeptisch auf ein Urteil des Flensburger Amtsgerichts.
Am Montag hat das Flensburger Amtsgericht einen Mann freigesprochen, der zusammen mit anderen monatelang ein kleines Waldstück am Flensburger Bahnhof besetzt hatte. Die Richterin wertete die Aktion zwar als Hausfriedensbruch, sprach den Angeklagten wegen seines Einsatzes für den Klimaschutz aber trotzdem frei. Die Staatsanwaltschaft legte sofort Revision ein. Angesichts der bundesweiten Debatte über Straßenblockaden und andere Proteste richten sich nun viele Augen auf die Rechtsprechung in Schleswig-Holstein.
Der unumkehrbare Klimawandel rüttelt an der Rechtsordnung
Die zentrale juristische Frage ist dabei, in welchen Fällen ein "rechtfertigender Notstand" gegeben ist. Das Strafgesetzbuch verlangt dafür eine "nicht anders abwendbare Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut." Die Europarechtlerin Prof. Dr. Anna Katharina Mangold von der Universität Flensburg erkennt, dass die Abwägung bisherige Normen sprengt: "Bei unumkehrbarem Klimawandel müssten wir schwerwiegendste Eingriffe in andere Rechtsgüter hinnehmen. Das ist etwas, was mit Grundüberzeugungen der Rechtsordnung bricht. Dabei muss ich aber auch sagen, dass die Situation schon so dramatisch ist, dass ein Neudenken - etwa der Eigentumsordnung - notwendig ist." Das bedeute aber auch, dass sich alle möglichen Straftaten rechtfertigen ließen. Sie glaubt letztlich, das Urteil werde keinen Bestand haben, weil es mit den bisherigen Auffassungen von einem rechtfertigenden Notstand breche.
Die Aktionen selbst helfen dem Klima kaum
Sobald es um den Klimaschutz geht, sprechen Juristen generell von einem Fernziel. Denn durch Sitzblockaden oder eine Waldbesetzung ist dem Klima kaum geholfen. Auf die Frage, ob durch die Abholzung tatsächlich nennenswert CO2 in die Atmosphäre gelangt, war das Amtsgericht in seiner Abwägung gar nicht eingegangen. Die Investoren argumentieren damit, dass neue Bäume an anderer Stelle gepflanzt würden. Die Aktionen stellen aber Aufmerksamkeit für die Sache her. Ob damit Straftaten zu rechtfertigen sind, bezweifeln viele Fachleute. In der Lehre fällt oft das Beispiel eines Bergsteigers, der sich in den Bergen vor einem aufziehenden Gewitter schützen will - und dafür eine Berghütte aufbricht. In diesem Fall würde das Leben des Bergsteigers höher gewichtet als die Straftat Sachbeschädigung und der Hausfriedensbruch.
Experte aus Mainz: Urteil ist nicht haltbar
Der Experte für Strafrecht Prof. Dr. Volker Erb an der Universität Mainz betont ebenfalls, die Baumbesetzer müssten versuchen, ihr Ziel mit rechtsstaatlichen Verfahren zu erreichen. Auch aus seiner Sicht ist das Urteil nicht haltbar. Denn der Notstands-Paragraf setze eben die "Angemessenheit der Mittel" voraus, die geeignet sein müssen, die Gefahr abzuwenden. Hier sei die Wirkung auf den Klimaschutz aber extrem verdünnt.
Parallelen zu Tierschutz-Aktionen in Schweineställen
In diesem Zusammenhang weist die rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Kiel auf ein Urteil von 2018 hin. In Sachsen-Anhalt waren Tierschützer in Schweineställe eingedrungen, um zu kleine Kastenstände, Überbelegung und andere Verstöße zu dokumentieren. Auch hier wurde der "rechtfertigende Notstand" höher als der Hausfriedensbruch gewichtet. Laut Urteil des Oberlandesgericht Naumburg hatte die Aufsichtsbehörde aber zuvor massive Mängel vertuscht. Das Einschalten weiterer Behörden wäre somit aussichtslos gewesen. In Flensburg bestand dagegen Baurecht. Gegen Klimaschutzvorgaben hat formell niemand verstoßen.